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Wozu brauchen wir noch Sex?

Einen Tag vor Heilig Abend auf der Jagd nach den letzten Weihnachtsgeschenken, fiel mein Blick auf das neue Buch von Jörg Zittlau, ein Wissenschaftsjournalist. Titel: Wer braucht denn noch Sex?
Hin und hergerissen betrachtete ich das Werk. Es ist nicht so, als hätte ich nichts mehr zu lesen. Die Vernünftige in mir, riet vom Kauf ab, aber die Neugierde siegte. Es passte gerade so gut in meine Stimmung, an meinem ersten freien Tag. Was war passiert?

Wie üblich hatte ich im November und Dezember extrem viel zu tun, und wie üblich, ging es besonders dramatisch zu. Warum das um diese Jahreszeit immer so ist, weiß ich auch nicht.
Mein letztes Paar in diesem Jahr kam zum ersten Mal, und mir fiel sofort auf, wie angespannt sie waren. Der Mann begann zu erzählen: Er habe seine Traumfrau geheiratet. Bei ihr hätte er sofort gespürt, dass sie die Richtige sei. Nur mit dem Sex habe es von Anfang an nicht so gut geklappt. Er glaube, dass seine Frau nicht normal sei. Vor seiner Frau habe er nichts Festes gehabt, aber einige intensive Affären. Der Sex sei grandios gewesen, so richtig geil. Die Frauen seien offen und experimentierfreudig gewesen, nur außerhalb des Bettes sei nichts gegangen.
Mit seiner Frau sei er glücklich, sie hätten ein gutes gemeinsames Leben bis auf den Sex.

Die Frau hatte still zugehört, wirkte verzweifelt und ließ dann ihren Tränen freien Lauf. Ihr Mann habe ja recht, aber sie fände Sex nicht wichtig. Er bedeute ihr nicht mehr viel. Als junge Frau habe sie auch Affären gehabt, aber das sei nicht mehr wichtig für sie.

Fast immer frage ich dann Folgendes: „Wenn Sie selbst bestimmen können, wie häufig kämen Sie dann auf die Idee, Sex zu haben oder Erotik zu leben“?

Sie antwortete: „Eigentlich kaum, vielleicht alle paar Monate einmal, aber defintiv nicht mehrmals pro Monat.“ Mittlerweile weinte auch der Mann:  „Und ich fühle mich wie ein Alkoholiker, der vor einer geöffneten Flasche Wodka sitzt, ganz nah vor mir, aber ich darf nicht trinken, vielleicht mal ein bisschen schnuppern. Ich halte das nicht mehr aus. Ich will keine andere Frau, aber sie lässt mich seit 12 Jahren verdursten. Wenn sie mich lieben würde, dann würde sie mich auch begehren.“

Ich atme tief durch, weil ich weiß, dass ich den beiden wahrscheinlich nicht helfen kann. Aus meiner Erfahrung lassen sich so unterschiedliche Bedürfnisse in Bezug auf die Frequenz auch nicht durch eine erfolgreiche Sexualtherapie vereinen. Möglich wäre eine Annäherung, aber ich vermute, dass beide trotzdem nicht glücklich in Bezug auf ihre Erotik würden.
Aber auch, wenn ich wahrscheinlich nicht helfen kann, möchte ich die Zeit nutzen, um noch etwas mehr zu erfahren, und vielleicht auch ein paar Mythen zu entzaubern.

Der erste Mythos lautet: Wenn Du mich liebst, dann begehrst Du mich auch. Leider ist oft eher das Gegenteil der Fall. Den häufigsten Sex haben Paare, die sich nicht sicher in ihrer Beziehung fühlen. Sex ist ein starkes Bindemittel, nach dem Orgasmus werden Neurotransmitter ausgeschüttet, die eine zärtliche Bindung fördern, deshalb finden wir den häufigsten Sex bei Menschen, die frisch verliebt oder sich generell eher unsicher in ihrer Liebesbeziehung fühlen. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass Paare, die sich sehr sicher in ihrer Liebe fühlen,  weniger Sex bedürfen. Er ist für die Bindung nicht mehr notwendig. Genau das belegen auch die Statistiken. Nicht das Lebensalter ist entscheidend für die Sexfrequenz, sondern das Alter der Beziehung. 70jährige, die frisch verliebt sind, haben deutlich häufiger Sex als 30jährige, deren Beziehung schon 10 Jahre alt ist. Insofern wäre die Wahrheit eher: Weil Du mich liebst, und Du Dich sicher bei mir fühlst, willst Du weniger Sex. Dazu passt auch, dass Paare, bei denen Trennung im Raum steht, häufig plötzlich mehr Sex haben, als die Jahre zuvor.

Mythos Nummer 2: Begehren entwickelt sich von allein. Leider wollen wir das, was wir jeden Tag haben können oder sowieso schon haben, nicht haben. Wir wollen genau das, was wir nicht haben können, weil es uns verweigert wird, weil es selten und damit wertvoll ist (Limited edition) oder verboten ist. Das ist der Stoff, aus dem Begehren entsteht. Das, was die Partnerschaft sicher und verlässlich macht, ist häufig Gift für die Erotik.

Mythos Nummer 3: Wenn mein Partner sieht oder spürt, wie sehr ich es brauche, wird er oder sie mir schon den Gefallen tun, weil er oder sie mich liebt. Das funktioniert oft nur am Anfang einer Liebesbeziehung, so lange man sich noch nicht ganz sicher fühlt, aber spätestens nach einigen Jahren, beginnt ein destruktives Verfolgungs-Ausweichmuster. Da ist der eine Partner, der drängt, mahnt, klagt, bettelt oder Vorwürfe macht und der andere Partner, der ausweicht, Zärtlichkeit vermeidet oder eine Sexsucht in den Raum stellt. „Du bist ja krank.“

Letzteres Muster sehe ich wöchentlich mehrfach in meiner Praxis. Häufig ist es der Mann, der braucht, will, bettelt und eine Frau, die Ihn genervt abweist wie eine lästige Fliege und Angst vor Momenten der Intimität hat. So auch das Paar, welches ich anfangs beschrieben habe.

Doch was ist die Lösung? Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht. In der Praxis versuche ich das Verfolgungs-Ausweichmuster zu unterbrechen, indem ich eine Sexpause anrege, um der oder dem Verfolgten zu ermöglichen, dass Begehren entstehen kann. Und häufig funktioniert das auch, manchmal sogar richtig gut. Was aber tun, wenn sich auch nach einem halben Jahr kein Begehren zeigt, der oder die Verfolgte aufatmet und nichts, aber auch gar nichts vermisst? Was dann?
Manchmal kann ich dazu anregen, sich mit der eigenen Erotik zu beschäftigen; Wer bin ich als erotische Frau? Wie möchte ich als Mann meine erotischen Wünsche leben? Nicht dem Partner zuliebe, sondern ganz für mich. Auch das geht manchmal, dass Erotik zurückkommen kann, ohne Druck und ohne besonderen Nutzen. Aber auch dieser Weg funktioniert nicht immer. Was dann?

Hier setzt das Buch von Jörg Zittlau an. Es ist kein therapeutisches Buch. Es ist ein Buch, das provoziert, weil es gängige Denkmuster in Frage stellt. Wozu brauchen wir noch Sex, fragt der Autor. Trauen wir uns, diese Frage zu stellen? Die meisten von uns, sind doch der Meinung, dass Sex zu einer liebevollen Beziehung dazugehört, und stellen das auch nicht in Frage, selbst, wenn die Abwesenheit von Sex soviel Leid erzeugt, wie ich es wöchentlich in der Praxis erlebe.

Da ist der junge Mann, der seine Freundin mit der andauernden Frage quält, ob er attraktiv für sie sei, der überprüft, ob sie körperlich genügend auf ihn reagiert, oder, ob sie nicht doch „andere viel geiler“ als ihn findet. Nach zwei sehr intensiven Jahren ist die Beziehung vorbei, und der junge Mann begreift, dass er es war, der die Beziehung mit seinem Wahn zerstört hat.

Da ist ein anderer nicht ganz so junger, aber sehr erfolgreicher Mann, der unbedingt eine Frau besitzen will, die ihn aber nicht will. Er kann nicht aufhören, hat sich hoch verschuldet, und seine Existenz ist gefährdet. Trotzdem macht er weiter. Er will sie besitzen, und wenn er sie besessen hat wieder fallen lassen. Hauptsache, er behält die Kontrolle.

Und ein letztes Bespiel: Leider wieder ein Mann, (ich glaube Frauen geben schneller auf, wenn sie nicht gewinnen können), der unter Tränen gestand: „Ich kann nicht ohne, ich muss meine Frau spüren. Wenn ich in ihr bin, das fühlt sich wie zuhause an. Eigentlich eine ganz schöne Liebeserklärung, aber das Problem ist nicht, das „Seine Frau wollen“, sondern „Seine Frau existenziell zu brauchen“. Das erträgt auf Dauer keine Partnerin oder kein Partner. Wir können und wollen nicht die Verantwortung für das Lebensglück unseres Partners übernehmen.

Insofern klingt ein Liebesleben, in dem wir den Sex nicht brauchen, sondern vielleicht ab und an mal wollen, doch durchaus verlockend. Was wäre, wenn wir uns die Freiheit nähmen, uns mal für und mal gegen den Sex zu entscheiden. Ganz wie wie es uns beliebt. Damit der Sex bleiben kann, was er für mich ist: Eine der schönsten NEBENSACHEN in der Welt, aber nicht die HAUPTSACHE.

 

 

 

2 Kommentare
  1. Ramona Wadlinger
    Ramona Wadlinger says:

    Hallo…es hat mit irgendwie dazu bewegt ein paar Zeilen zu schreiben…ich finde das Thema Sex sehr wichtig u durchaus die schönste Nebensache…doch wenn man den falschen Partner hat…funktioniert Sex nicht wirklich…mein Mann ist nicht der Mann dem es Spass macht eine Frau anzutörnen u auch mal zu verwöhnen u vielleicht auch mal ein bisschen länger Erotik aufkommen zu lassen als 5-10 Min….wenn Mann will…dann sofort u nicht viel drum rum…ich bin sehr leidenschaftlich u sehr aufgeschlossen was Sex.Erotik u schöne Wäsche u Romantik angeht…lg Wadlinger

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    • Christiane Jurgelucks
      Christiane Jurgelucks says:

      Liebe Frau W.
      Was Sie ansprechen, kenne ich aus meiner Praxis sehr gut. Es gibt einen Unterschied zwischen Sex und Erotik. Erotik meint das Spiel zwischen Mann und Frau und die Kunst der Verführung. Leider machen sich viele Menschen (nicht nur Männer) keine Gedanken darüber. Schade eigentlich, denn ohne Erotik kann Sex schnell langweilig werden.
      Herzliche Grüße
      Christiane Jurgelucks

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